"Die Allerwenigsten wollen nicht arbeiten"

15.11.23, 18:36
Nina Louis

Armut in Düsseldorf - Interview mit der Caritas-Existenzberaterin Bettina Massong

Die studierte Sozialarbeiterin Bettina Massong arbeitet in der Fachberatung Existenzsicherung & Arbeitslosigkeit der Caritas Düsseldorf. Seit fast 20 Jahren berät sie Menschen, die in finanzielle Notlagen geraten sind. Wie genau passiert das in einer Stadt wie Düsseldorf, was bedeutet es konkret und warum kann es so schwierig sein, sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien? Das erläutert Bettina Massong anlässlich des „Welttags der Armen“, der am kommenden Sonntag stattfindet.  

Frau Massong, Düsseldorf ist doch eine schöne Stadt in einem der reichsten Länder der Welt. Wie wird man hier eigentlich arm? 

Die Gründe sind sehr vielfältig. Ein großes Armutsrisiko ist natürlich Arbeitslosigkeit, aber eben nicht nur! Etwa 30 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, sind erwerbstätig und trotzdem arm, weil sie im Niedriglohnsektor arbeiten oder zum Beispiel alleinerziehend sind und deshalb nicht Vollzeit arbeiten. Ihr Gehalt reicht deshalb nicht aus – häufig auch dann nicht, wenn der Vater der Kinder Unterhalt zahlt. Wie schnell es passieren kann, in eine finanzielle Notlage zu geraten, hat auch die Coronapandemie gezeigt: Viele, gerade Selbstständige wie Musiker:innen, Eventmanager:innen oder Messebauer:innen, standen von heute auf morgen vor dem Nichts. Ein Geschäft, das man über viele Jahre aufgebaut hat – mit Kundenstamm, Räumlichkeiten und so weiter – lässt sich nicht einfach wiederbeleben. So manche:r hat es bis heute nicht geschafft, wieder in eine reguläre Beschäftigung zurückzufinden. Eine immer größer werdende Gruppe derer, die zu uns kommen, sind außerdem ältere Menschen, deren Rente unter dem Existenzminimum liegt, die also von Altersarmut betroffen sind.

Zurzeit werden Arbeitskräfte vielerorts händeringend gesucht. Wie kann es sein, dass trotzdem noch Menschen arbeitslos sind?   

Es gibt Menschen, die trotz allem auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben, auch wenn sie unbedingt arbeiten wollen. Manche haben gesundheitliche, psychische oder auch intellektuelle oder sprachliche Einschränkungen. Andere sind – im Hinblick auf eine Erwerbstätigkeit – geringqualifiziert und vielleicht nicht mehr die Jüngsten. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Eine unserer Klient:innen ist 63 Jahre alt, hat früh geheiratet und mehrere Kinder großgezogen. Sie war Hausfrau und Mutter, aber nie berufstätig. Als sie 62 Jahre alt war, starb ihr Mann und sie musste plötzlich finanziell auf eigenen Beinen stehen. Wer stellt eine 62-Jährige ein, die noch nie auf dem ersten Arbeitsmarkt aktiv war? Sie schrieb eine Bewerbung nach der anderen, aber ohne Erfolg. Wir konnten der Dame einen Ein-Euro-Job vermitteln, der ihr neben dem Verdienst auch eine Tagesstruktur, Selbstbewusstsein und ein soziales Umfeld gibt. Erlebt haben wir hier auch schon tragische Fälle von Menschen mit schweren Erkrankungen, denen nach Auslaufen des Krankengeldes gekündigt wurde und die jetzt auf Bürgergeld angewiesen sind, obwohl sie beruflich einmal sehr erfolgreich waren. 

Was genau bedeutet in Deutschland und konkret hier in Düsseldorf „arm“, lässt sich der Begriff definieren? 

Man unterscheidet zwischen „relativer Armut“ und „absoluter Armut“.  Erstere heißt „relativ“, weil sie sich auf die finanzielle Situation eines Menschen im Verhältnis zu seinem sozialen Umfeld bezieht: Wenn jemand über weniger Einkommen verfügt als das Durchschnittseinkommen in seinem Land oder – je nach Bezugsrahmen – seiner Stadt, dann gilt er als relativ arm. Von „absoluter Armut“ spricht man hierzulande, wenn das Einkommen eines Menschen unter dem Existenzminimum liegt. 

In Deutschland und somit auch in Düsseldorf dürfte es dann aber keine absolute Armut geben, weil Bürgergeld und Grundsicherung doch genau dieses Existenzminimum gewährleisten. 

Offiziell ja, de facto aber nein. Ein großer Teil der Menschen, die in unserer Fachberatung Hilfe suchen, sind von absoluter Armut betroffen. Sie sind durch die sozialen Sicherheitsnetze gefallen. In manchen Fällen ist es eine Übergangssituation: Geld wurde beantragt, ist aber noch nicht eingetroffen, weil zum Beispiel noch Unterlagen fehlen. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Düsseldorfer:innen, die keine finanziellen Hilfen beantragen wollen oder können.

Welche Gründe sind das, die jemanden davon abhalten, in finanzieller Not Bürgergeld oder Grundsicherung zu beantragen? 

Manche Menschen sind aus gesundheitlichen Gründen faktisch nicht in der Lage, die Unterlagen für einen Bürgergeld-Antrag zusammenzubekommen und die bürokratischen Anforderungen zu erfüllen. Das hat nichts mit Faulheit oder einem schwachen Willen zu tun, sondern mit echten körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen. Das können zum Beispiel schwere Depressionen oder Angsterkrankungen sein. Einige unserer Klient:innen schaffen es beim besten Willen nicht, ihre Post zu öffnen. Ihnen bieten wir an, mit ihrer gesamten ungeöffneten Post zu uns zu kommen. Das ist dann schon mal ein wichtiger Schritt, der ihnen dabei hilft, das Problem in den Griff zu bekommen. Auch Suchterkrankungen können das Abrutschen in eine absolute Armut natürlich begünstigen. 

Kommen auch Menschen zu Ihnen, die vielleicht aus Scham keine finanzielle Hilfe in Anspruch nehmen wollen? 

Ja, das erleben wir leider häufig. Für viele, insbesondere alte Menschen, ist finanzielle Unterstützung vom Staat extrem schambehaftet. Obwohl ihre Rente weit unter dem Existenzminimum liegt und ihnen die Grundsicherung im Alter ihnen definitiv zustünde, scheuen sie vor dem Gang zum Amt zurück. Es ist immer wieder erschreckend, wie oft hier Menschen sitzen, die uns gegenüber erst einmal klarstellen wollen: „Ich bin nicht so wie die anderen.“ Sie denken, dass sie sich von den anderen Menschen mit Armutserfahrung abgrenzen müssen, um nicht als „asozial“ oder faul zu gelten. In vielen Fällen nehmen Betroffene gar nicht selbst, sondern über Dritte Kontakt zu uns auf. Das alles macht deutlich, wie sehr Armut in Politik und Gesellschaft stigmatisiert ist. 

Was sagen Sie diesen Menschen und was setzen Sie der gesellschaftlichen Stigmatisierung entgegen? 

Wir heißen hier jeden mit seiner individuellen Geschichte und Situation von Herzen willkommen und wissen dabei: Kaum einer ist aus eigener Schuld oder Fahrlässigkeit in finanzielle Not geraten. Die Allermeisten sind unverschuldet arm und wollen unbedingt raus aus der Armut. Es ist auch nicht so, wie es viel zu oft fälschlicherweise dargestellt wird, dass Leute nicht arbeiten wollen. Die gibt es, aber es sind wenige Einzelfälle. Wir sehen hier fast ausschließlich das Gegenteil. Die 63-jährige Klientin mit dem Ein-Euro-Job, von der ich eben sprach, hat hier vor kurzem geweint. Sie hat die Sorge, dass sie diesen Job wegen der Kürzungen, die im Bereich der beruflichen Integration für den Bundeshaushalt 2024 geplant sind, demnächst nicht weitermachen kann. Für sie und viele andere, die keine Alternative haben, wären diese Kürzungen eine Katastrophe. 

Auch wohnungslose Menschen haben es bei der Jobsuche bestimmt sehr schwer. 

Ja, für sie ist die Jobsuche auf dem ersten Arbeitsmarkt quasi aussichtslos. Das ist ein Teufelskreis: Ohne Wohnung kein Arbeitsvertrag, ohne Arbeitsvertrag keine Wohnung. Wer arm ist und seine Wohnung verliert, findet auch so schnell keine neue. Wenn jemand Bürgergeld bekommt, erhält er die Miete vom Staat – das klingt erst einmal gut, hat aber einen Haken: Die Wohnung darf dann nämlich für einen Alleinstehenden, inklusive aller kalten Nebenkosten, nur 528 Euro kosten. Für ein Paar liegt die erlaubte Höchstgrenze bei 610 Euro. Finden Sie in Düsseldorf mal eine Wohnung in dieser Preisklasse, das ist fast unmöglich. 

Wie helfen Sie den Betroffenen – Sie können ja auch keine preisgünstigen Wohnungen herbeizaubern.

Es kommt vor, dass Menschen zwar eine Wohnung gefunden haben, die Miete aber ein klein wenig höher liegt. Wir können dann oft helfen, indem wir mit dem Jobcenter Kontakt aufnehmen und vermitteln. Die Behörden sind dazu verpflichtet, im Einzelfall zu prüfen, ob eine höhere Miete gerechtfertigt ist. 

Zurzeit wird immer wieder diskutiert, ob sich Arbeiten angesichts des Bürgergeldes überhaupt noch lohnt. Was halten Sie von dieser Diskussion? 

Oft wird behauptet, dass Menschen mit regulärem Job angeblich weniger Geld haben als Bezieher:innen von Bürgergeld. Das ist sachlich falsch: Jede:r, die oder der weniger verdient als das Bürgergeld, hat das Recht, aufzustocken. Er oder sie bekommt also unter Berücksichtigung von Erwerbstätigenfreibeträgen die Differenz zum Bürgergeld, womit im Ergebnis aufgrund der Arbeit ein höheres Einkommen zur Verfügung steht. Diesbezüglich würde ich mir von der Politik mehr Ehrlichkeit und eine transparentere Kommunikation wünschen. 

Oft wird auch vorgebracht, das Bürgergeld sei zu hoch, weil die Differenz zum Mindestlohn nicht ausreiche. 

Das Argument ist schief. Man kann nicht einfach behaupten, das Existenzminimum sei zu hoch, weil es zu nahe am Mindestlohn angesiedelt ist. Das Existenzminimum ist ja keine beliebige Größe, sondern basiert auf fundierten Berechnungen und harten Fakten. Die Erhöhung des Bürgergeldes, die vor kurzem stattgefunden hat, ist nicht erfolgt, weil die Politik sich etwas Neues ausgedacht hat. Vielmehr hat sich die Summe, die zur Sicherung der Existenz nötig ist, aufgrund der Inflation erhöht. Das Bürgergeld entspricht dem Existenzminimum, und das steht qua Verfassung jedem Menschen zu. Abgesenkt werden kann und darf es nicht, denn es ist ja bereits das Minimum. Wer die Differenz zwischen Mindestlohn und Bürgergeld erhöhen will, müsste also den Mindestlohn anheben anstatt beim Bürgergeld unter die Grenze dessen zu gehen, was Menschen zwingend zum Leben brauchen. 

 

Informationen zu Kontaktdaten und Öffnungszeiten der Caritas Fachberatung Arbeitslosigkeit und Existenzsicherung finden Sie hier.